Somatisierungsstörung

Das Kernmerkmale aller somatoformen Störungen sind körperliche Symptome, die nicht oder nicht ausreichend durch einen medizinischen Krankheitsfaktor erklärt werden können. Daher ist eine medizinische Abklärung unerlässlich. Die Entstehung der Symptome wird stattdessen durch psychische und psychophysiologische Faktoren erklärt. Somatoforme Störungen sind ferner durch psychologische Merkmale wie starke Gesundheitssorgen, selektive Beachtung von Körperprozessen, unangemessene Symptombewertungen, Kontrollen und Checkingverhalten sowie übertriebenes Inanspruchnahmeverhalten medizinischer Dienste gekennzeichnet.

Vermutlich gibt es prädisponierende Faktoren, die sowohl genetisch-biologisch als auch entwicklungsgeschichtlich bedingt sein können. Zu den biografischen Risikofaktoren zählen ungünstige Modelle in der Kindheit (z. B. problematisches Krankheitsverhalten der Eltern), negative Kindheitserfahrungen mit Krankheit und dem Gesundheitssystem sowie Störungen des gesunden Körpererlebens (z. B. infolge von sexuellem oder körperlichem Missbrauch).
Man geht heute von einem dispositionellen Wahrnehmungs- und Bewertungsstil aus, der als »somatosensorische Verstärkung« bezeichnet wird. Personen mit einer hohen Ausprägung dieses Stils neigen dazu, Körperempfindungen als intensiv, schädlich und beeinträchtigend zu erleben, sie durch Aufmerksamkeitszuwendung besonders zu beachten und ihnen eher eine pathologische denn eine normale Bedeutung zuzuweisen. Auf dieser Basis können sich somatoforme Symptome und Störungen entwickeln. Als entscheidend im Störungsmodell werden

• die Fehlbewertung von harmlosen Körpersignalen als bedrohlich oder unerträglich,
• die Verfestigung solcher Körperempfindungen durch selektive Aufmerksamkeit oder weitere emotional-vegetative Erregung und
• die Entwicklung von unangemessenem Schon- und Vermeidungsverhalten angesehen.

Der Therapieprozess gliedert sich typischerweise in vier Hauptphasen:

(1) Aufbau einer ausreichenden psychotherapeutischen Behandlungsmotivation;
(2) Entwicklung eines plausiblen individuellen Störungsmodells (als Alternative zu einem oft einseitigen organmedizinischen Modell;
(3) Evaluation dieses Störungsmodells durch Übungen und Beobachtungen;
(4) Abbau von Krankheits- und Vermeidungsverhalten.

Viele Patienten sind auf somatomedizinische Behandlungen fixiert und können sich unter Psychotherapie wenig vorstellen. Daher ist es wichtig, den Patienten zu informieren und ihm die Logik des psychotherapeutischen Ansatzes darzulegen. Dazu gehört die Entwicklung eines psychophysiologischen Störungsmodells, das die Beschwerden und ihre Folgen mutmaßlich besser erklären kann als ein rein organmedizinisches Modell. Das Störungsmodell wird aber dem Patienten nicht einfach »übergestülpt«, sondern durch vielfältige Übungen und Beobachtungen im Therapieverlauf auf seine Richtigkeit hin überprüft. Der Patient lernt, im Laufe der Therapie eine aktive Rolle zu übernehmen und nicht wie in der somatischen Medizin eine rein passive Haltung einzunehmen.
Als hilfreiche Methoden in der Therapie können Symptomtagebücher, Verhaltensexperimente, Stressinduktionsübungen, imaginative Methoden, Übungen zur Aufmerksamkeitslenkung, akzeptanzfördernde Interventionen, Entspannungsverfahren und Biofeedback eingesetzt werden. Kognitive Methoden zielen meist auf eine Veränderung von Krankheitsüberzeugungen (z. B. katastrophisierende Bewertungen, Zutrauen zu den eigenen Körperfunktionen).
Weitere Maßnahmen zielen darauf ab, unpassendes Krankheits- und Vermeidungsverhalten abzubauen. Hierzu gehören die Aufgabe von Checkingverhalten (Funktionsüberprüfungen des eigenen Körpers), die Reduktion von Arztkonsultationen und ärztlichen Rückversicherungen (einschließlich des Absetzens überflüssiger Medikamente), der Abbau von hypochondrischem Vermeidungsverhalten, die Verminderung des übermäßigen Beschäftigtseins mit den eigenen Symptomen und Verhaltensänderungen zur Verbesserung der Lebensqualität.

Gaby Bleichhardt & Florian Weck (2010).
Kognitive Verhaltenstherapie bei Hypochondrie und Krankheitsangst (2. Aufl.). Heidelberg: Springer.

Hans Lieb & Andreas von Pein (2009).
Der kranke Gesunde. Psychosomatische Beschwerden verstehen (4. Aufl.). Stuttgart: Trias.

Hans Morschitzky (2007).
Somatoforme Störungen: Diagnostik, Konzepte und Therapie bei Körpersymptomen ohne Organbefund (2. Aufl.). Heidelberg: Springer.

Elisabeth Rauh & Winfried Rief (2006).
Ratgeber Somatoforme Beschwerden und Krankheitsängste. Informationen für Betroffene und Angehörige. Göttingen: Hogrefe.

Winfried Rief & Wolfgang Hiller (2011).
Somatisierungsstörung (Reihe Fortschritte der Psychotherapie). Göttingen: Hogrefe.